Nio war es immer wichtig, die Uhrzeit zu wissen. Schon als kleiner Junge hatte er ein Gespür für Zeit, für Minuten, Sekunden, für das Kommen und Gehen. Er lernte früh, die Uhr zu lesen. Für ihn war sie kein bloßes Spielzeug – sie gab ihm Sicherheit, machte die Welt berechenbar. Es war, als gäbe sie ihm Halt, als wäre die Uhr sein Anker. Sie bedeutete Ordnung und Vorhersehbarkeit.
Wenn ich ihn in den Kindergarten oder später in den Hort brachte, fragte er jedes Mal: „Wann holst du mich ab?“ Dann schaute er immer wieder auf die Uhr, zählte die Minuten und stand pünktlich zur vereinbarten Zeit an der Tür.
Doch wenn ich einmal zu spät kam, bekam er Panik. Dann stand er mit klopfendem Herzen da, die Augen suchten mich verzweifelt. Es war nicht nur eine Uhrzeit – es war sein Vertrauen in die Welt.
Heute fragt er nicht mehr danach. Er schaut nicht mehr auf die Uhr. Er wartet nicht mehr. Als hätte Zeit keine Bedeutung mehr, wenn einem keine mehr bleibt. Als wäre sie nicht mehr wichtig, weil sie nichts mehr verspricht.
Seit seiner Diagnose ist alles anders. Manchmal scheint die Zeit zu rasen, manchmal stillzustehen. Stunden verlieren ihre Form, Tage verschwimmen. Und während ich jede Sekunde festhalten möchte, entgleitet sie mir wie Sand zwischen den Fingern.
Für ihn hat die Zeit aufgehört, etwas zu messen. Sie ist jetzt Gefühl. Wärme. Nähe. Liebe. Er weiß, dass ich da bin. Immer.
Vielleicht fragt er nicht mehr laut danach, weil er längst weiß, dass Zeit nichts ist, was man festhalten kann.
Ich wünschte, ich könnte ihm die Zeit zurückgeben — nicht die auf der Uhr, sondern die, die zählt.
Vielleicht ist das die grausamste und wichtigste Erkenntnis zugleich: Zeit kann man mit keinem Geld der Welt erkaufen. Und deshalb sollte man keine Sekunde vergeuden.
Und vielleicht ist es jetzt an mir, zu erkennen, dass manche Momente, egal wie spät es ist, trotzdem bleiben. 🩵
